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Mensch sein ...

Ich bin leise und sensibel ...
© Hannah S.

 

... und mir die Freiheit schenken, leise und sensibel meine Wahrheit zu leben.

 

Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind.

Es gibt so viele, denen das Leben ganz leise viel echter gelingt.

Konstantin Wecker

 

Du musst stark sein

 

Sei es aus der Kinderzeit, der Jugendzeit oder der Erwachsenenzeit. Jeder von uns hat diesen Satz schon einmal gehört, gedacht, gespürt oder vielleicht sogar selbst gegenüber anderen geäußert. So wie ich, damals auf dem Waldspielplatz, zwischen Sandburgen und Sandkuchen.

 

Ich hatte das Ereignis minutiös beobachtet und wusste bereits im Vorfeld, was sich anbahnte und welches Drama sich in nur wenigen Sekunden abspielen würde. Und genauso kam es. Meine Tochter setzte sich also neben mich auf die Bank, schaute nach links, schaute nach rechts und einen kurzen Augenblick später kullerten bereits die ersten Tränchen ihre Wangen hinunter. Ich nahm sie in den Arm, tröstete sie und erklärte, sie müsse lernen stark zu sein, weil das Leben hart ist und sie müsse lernen sich zu wehren, weil das Leben ungerecht ist. 

 

Sie schaute mich mit ihren feuchten und funkelnden und Augen an, rieb sich die Tränen aus ihrem Gesicht, sprang wieder zurück in den Sandkasten und bat ihre allerbeste Freundin ganz höflich und ungeniert darum, ihr doch bitte ihre Schaufel zurückzugeben, damit sie ihre geliebte Sandburg zu Ende bauen könne. Mit einer offenherzigen, ehrlichen Entschuldigung und einem sehr liebevollen Lächeln im Gesicht, reichte ihre Freundin die Schaufel rüber und gemeinsam wurde weiter gegraben, gebacken, gebaut und gespielt. Vergeben und vergessen.

 

Das war meine Tochter! Ob sie den wirklichen Sinn meiner Aussage seinerzeit überhaupt begriffen hat, sei einmal dahingestellt. Allerdings hat sie ihn mit Bravur umgesetzt: Sie war stark und hat sich gewehrt, indem sie ihr Problem mit Feingefühl und Respekt bereinigt hat. 

 

Dann steht das Leben vor dir

 

Mit Wehmut denke ich an diese unbeschwerten Tage zurück. Damals, als sich das Leben noch um Eimerchen, Schaufelchen und Sandförmchen drehte. Als man den Kindern wegweisende Ratschläge vermittelte und alles andere im Leben nach Plan verlief. Doch heute weiß ich mehr vom Leben. Ich habe für mich erkannt und erfahren, dass das harte und ungerechte Leben, vor dem ich meine Tochter einst versuchte zu warnen, wirklich existiert. Und zwar jeden Tag.

 

Oftmals braucht es nur einen kurzen Augenblick und das Leben katapultiert dich von jetzt auf gleich aus deiner inneren Wahrheit und gelebten Wirklichkeit heraus und lässt dich mit voller Wucht in eine nichtssagende, charakterlose Maskerade knallen, in der andere das Drehbuch schreiben und verlogen Regie führen. Du stellst dir die Frage, was du falsch gemacht hast, worauf dir dein Leben unverblümt antwortet: "Du bist zu ehrlich, zu geradlinig, zu anständig".

 

Manchmal erwischt dich das Leben mit voller Breitseite und du bekommst für deine ehrlichen, geradlinigen und anständigen Charaktereigenschaften noch einen drauf. So sind wohl die Spielregeln eines aus der Bahn geratenen, perfiden Systems: Pass dich an, bring deine Leistung und leg deine Menschlichkeit bitte morgens an der Garderobe ab. Hinterfrage nichts, denke nicht quer, denke nicht frei und sei vor allem weder sensibel noch feinfühlig unterwegs.

 

Erkennen was von Bedeutung ist

 

Ich habe meinen persönlichen Kurs fixiert. Ich habe meine Segel gehisst und meine Richtung navigiert. Ich habe erkannt und begriffen, was in meinem Leben von wesentlicher Bedeutung ist: Ich möchte ein authentisches Leben führen. Ein Leben, in dem ein anständiges, ehrliches und vor allem ein respektvolles Miteinander favorisiert wird. Ein Leben, in dem man sich auf Augenhöhe begegnet, die Sichtweisen anders denkender Menschen akzeptiert und ihnen trotz alledem die erforderliche Wertschätzung und gebührende Anerkennung entgegenbringt.

 

Vielleicht erreichen wir irgendwann den Punkt in unserem Leben, an dem wir die wesentlichen Bestandteile unseres Daseins neu erkennen, unsere kapitalistischen Sichtweisen wieder gegen menschenfreundliche Sichtweisen eintauschen und uns Menschen wieder im Mittelpunkt des Lebens platzieren. Es wäre wünschenswert für uns alle, denn ein System ist immer nur so gesund und leistungsfähig wie die Menschen, die sich darin aufhalten, bewegen und arbeiten.

 

Stark sein und dem Leben vertrauen

 

Stark sein bedeutet für mich, in jeder Lebenssituation Mensch zu sein und Mensch zu bleiben. Auch als sensibler oder feinfühliger Mensch, bin ich stets in der Lage stark zu sein und den Situationen eines harten und ungerechten Lebens standzuhalten. Eines sollte man jedoch nie verlieren und das ist der notwendige Respekt für sein Gegenüber, denn auch er ist Mensch.

 

Niemand in dieser Welt ist wirklich groß, der andere neben sich klein macht. Stark zu sein bedeutet in solchen Fällen auch, zu erkennen, dass man im Leben nicht immer stark sein kann. Manchmal muss man dem Leben auch nur etwas Zeit geben um Abstand zu nehmen, neue Kräfte zu mobilisieren, um damit einen weiteren Lebensschritt nach vorne zu kommen. 

 

So schwer es auch fällt, zweifelhafte Situationen des harten Lebens zu bewältigen und zu verarbeiten, so wäre ich ohne diese Lebenssituationen nicht der Mensch, der ich heute bin. Und manchmal muss ich einfach nur atmen, loslassen und dem 'echten' Leben vertrauen.

 

Wer danach strebt ein "großer Mensch" werden zu wollen,

übersieht, dass es schon eine große Leistung ist,

ganz einfach ein Mensch zu sein.

 Willy Meurer